Die grossen Steine des Lebens


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WURMSBACH – Passion-Projekte bieten Zeit und Raum, ein aufgeschobenes Vorhaben anzugehen, einen lang gehegten Traum zu verfolgen, eine Leidenschaft zu vertiefen oder ein neues Feld jenseits des Lehrplans zu betreten, um herauszufinden, was einem liegt und was nicht. Sieben aktuelle Beispiele aus dem Talent-Campus Zürichsee.

MARK RIKLIN

«Die Welt von morgen braucht Entdecker, Gestalter und Tüftler», sagt der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther. Menschen, die sich eigene Ziele setzen und diese intrinsisch motiviert mit Herzblut und Leidenschaft verfolgen. «Leidenschaft ist eine Energie, ein Antrieb im Gehirn, den wir als Begeisterung wahrnehmen. Deshalb sollten Schulen vor allem eines fördern: die Begeisterung fürs Lernen im weitesten Sinn. Denn Begeisterung ist wie Dünger fürs Gehirn.»

Im eigenen Auftrag

Der Talent-Campus Zürichsee nimmt sich Hüther’s Forderung zu Herzen. Nach der Lösung eines fremdbestimmten Problems im Future Skills Bereich «Acting outside the Box» folgt in der zweiten Hälfte des Herbstsemesters während 10 Nachmittagen viel Raum und Zeit, ein selbstbestimmtes Passion-Projekt zu verfolgen: eine Leidenschaft, ein Herzensanliegen oder ein immer wieder aufgeschobenes Vorhaben. «Einer der grossen Steine des Lebens soll es sein», sagt Regula Immler, die Leiterin der Future Skills Ausbildung, «etwas, was für den Jugendlichen wirklich wichtig und relevant ist, mit Sandkörnern und Kieselsteinen wollen wir uns nicht zufrieden geben.»

Abtauchen in die eigene Welt

Wer an einem Montag- oder Dienstagnachmittag durch das Lernhaus streift, findet überall verteilt Jugendliche, die ihr ganz eigenes Ding machen, in eigene Welten abtauchen und dabei die Zeit und sich selbst vergessen. Im hintersten Winkel des Maker Space hat sich Tashi (15) eingerichtet. Musik im Ohr, von Floorlinern und Acrylfarben umringt, sitzt sie am Boden, vier grossformatige Holzplatten vor sich, auf denen der Slogan «Our future is now» Platz finden und dereinst beim Betreten des Lernateliers daran erinnern soll, dass die Zukunft nicht erst nach der Schule anfängt, sondern längst begonnen hat. Ein passendes Leitmotiv für alle Futuraner, die am TCZ Entscheidungen für ihre persönliche Zukunft treffen wollen.

Flatteraufschlag und Blockverschiebung

Szenenwechsel. In der Turnhalle hat Matteo (17) soeben das Volleyball-Netz aufgespannt. Einmal pro Woche hat er die ganze Turnhalle für sich alleine, um Flatteraufschlag und Blockverschiebung zu perfektionieren und seine Fortschritte auf Video zu dokumentieren. In Absprache mit Trainer und Physiotherapeut hat er sich für sein Passion-Project einen Trainingsplan zusammengestellt, um ausgewählte Volleyball-Skills zu verbessern. «Am liebsten würde ich jede Sekunde Volleyball spielen», sagt Matteo, der davon träumt, eines Tages in der brasilianischen Nationalmannschaft zu spielen.

Der Kern der Freiheit

«Wählen und Alternativen zu haben, ist der Kern der Freiheit», sagte einst Hannah Arendt. Wer wünscht sich nicht, Zeit selbstbestimmt dort zu investieren, wo das eigene Feuer brennt. Und dann, wenn die Zeit unverhofft auftaucht, wird klar, dass das gar nicht so einfach ist. «Pläne für den eigenen Tag zu schmieden», gehört gemäss Richard David Precht zu den wichtigsten Zukunftskompetenzen. Eine Kunst, die anspruchsvoll ist. Uns anpassen, nach der Pfeife anderer tanzen, fremdbestimmte Aufträge erledigen, so tun als ob: Das haben wir eine Schulzeit lang perfektioniert. Sich selbst zu führen und zu beauftragen, will ebenso gelernt und geübt sein.

Achtung fertig los

Und so reagieren die Jugendlichen ganz unterschiedlich auf diese Freiheit. Die einen – etwa ein Viertel der Jugendlichen – wissen sofort, was sie machen wollen, kommen am zweiten Nachmittag bereits mit einer Ikea-Tasche voller Materialien, um sofort loszulassen. Enya (16) zum Beispiel, die ein Flair für Fantasy-Geschichten und die japanische Kultur hat. Für beide Leidenschaften findet sie im Futura-Jahr Raum und Zeit: Im Fach «Individuelle Förderung Sprachen» lernt sie mithilfe von Manga-Comic-Filmen Japanisch, im Fachgebiet der «Future Skills» näht sie an einem Kostüm, mit dem sie im Mai als Prinzessin Zelda, ein Charakter aus dem Videogame «Breath oft the Wild», die Fantasy-Messe Basel besuchen möchte.

Feintuning

Etwa die Hälfte der Jugendlichen reagiert weder euphorisch noch abweisend, nimmt die «Einladung» an und sucht nach einer pragmatischen Lösung, wie er/sie ein paar entspannte Nachmittage verbringen und gleichzeitig ein gutes Ergebnis erreichen kann. «Im Coaching-Prozess kann die Projektidee durch die Entwicklung eines i-Pünktchens oder eines dramaturgischen Höhepunkts noch etwas getunt oder aufgepeppt werden, um dem Projekt eine besondere Ausstrahlung zu verleihen», sagt Regula Immler. Die einen nehmen diese Anregung gerne an, andere wehren sich erfolgreich dagegen. Gian (14) zum Beispiel hat sich darauf eingelassen und als Höhepunkt seines Passion-Projekts ein internationales Schachturnier organisiert, das ein ukrainischer Historiker trotz Mehrfach-Beeinträchtigung (Low Vision und halbseitige Lähmung) überlegen gewann.

Öffnende Fragen

Etwa ein Viertel der Jugendlichen ist mit der Freiheit überfordert, verwirft Ideen immer wieder, braucht die Hälfte der Zeit, um herauszufinden, was er/sie machen könnte. «Hilfreich sind öffnende Fragen, die noch verschüttete Leidenschaften und Sehnsüchte aufspüren helfen», sagt Regula Immler. Was hat dich als Kind fasziniert? Bei welchen Tätigkeiten vergisst du dich und die Zeit? Welche Suchbegriffe gibst du am häufigsten im Internet ein? Bei welchen Themen wirst du um Rat gefragt? Was würdest du beruflich tun, wenn du kein Geld verdienen müsstest? Was würdest du am Ende deines Lebens über dich selber sagen wollen?

Mariage d’Amour

Szenenwechsel. In der Aula sitzt Paula (16) an einem weissen Steinway-Flügel und macht dort weiter, wo sie als kleines Mädchen nach ein paar Klavierstunden aufgehört hat. «Das Üben war nicht so mein Ding», sagt Paula, die Klaviertasten hätten sich aber nie ganz von ihr getrennt. Deshalb wollte sie die Chance nutzen, im Rahmen des Passion-Projects ein inspirierendes Stück auf eine andere Art zu lernen. Mithilfe eines Video-Tutorials übt sie auf dem Steinway-Flügel Chopin’s Werk «Mariage d’Amour», was sich wohl so anfühlen muss, wie wenn man mit einem Rolls-Royce Autofahren lernen würde.

Kindheitstraum

Auch Matthias (15) holt einen aufgeschobenen Traum nach, den er eine Kindheit lang verpasst hatte: den Bau einer Modelleisenbahn. «Meine grosse Leidenschaft ist die Eisenbahn, an der ich schon seit meiner Kindheit hänge», sagt der angehende Zugverkehrsleiter. Seitdem reise er beinahe jedes Wochenende mit der Bahn durch die Schweiz, nebenbei betreibe er Eisenbahn-Fotografie und poste die Bilder auf den Sozialen Medien. Die Anlage mit Gleis- und Geländebau wird schlussendlich so gross, dass sie nicht mehr ins Auto passt und extra ein Transporter gemietet werden muss.

Zehn Quadratmeter Freiraum

Ein letzter Szenenwechsel. Passion-Projekte bieten auch die Gelegenheit, sich in neuen Gewässern auszuprobieren, um herauszufinden, was einem liegt, behagt, was sich wie anfühlt. Alan (15) beispielsweise wollte schon lange einmal, ein grossformatiges Bild malen. Im Teamzimmer stellt ihm die Innenarchitektin des Talent-Campus Zürichsee eine Wandfläche von über 10 Quadratmetern zur Verfügung, um das selbst gewählte Sujet «Das wahre und das versteckte Gesicht» an die Wand zu malen. Übers Wochenende grundiert Alan unbemerkt und voller Elan die raue Wand, was so viel Spass macht, dass er sich umgehend eine Schnupperlehre als Maler organisiert.


Der Krug und die grossen Steine: Ein kleines Experiment

„Was sind in eurem Leben die grossen Steine? Eure Gesundheit, eure Familie, eure Freunde, die Realisierung eurer Träume und Leidenschaften, das zu tun, was euch Spass macht, dazulernen, eine Sache verteidigen, Entspannung, sich Zeit nehmen oder etwas ganz anderes? Wirklich wichtig ist, dass man die grossen Steine in seinem Leben an die erste Stelle setzt. Wenn nicht, läuft man Gefahr, dass man die falschen Prioritäten setzt.»

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Die Geschichte vom französischen Professor