Ein Tag ausserhalb der Komfortzone


WURMSBACH – Challenge-Day. Nach der kollektiven Heraus­forderung am Blackout-Day stellen sich die Jugendlichen des Talent-Campus Zürichsee (TCZ) einer selbst­gewählten, persönlichen Heraus­forderung, die sie aus der Komfortzone heraus­führen und im besten Fall an eine Grenze bringen soll. Impressionen aus dem ortsunab­hängigen Resilienz­training.

Kurz vor dem Sprung vom 5-Meter-Turm. Was für den Beckenrand­schwimmer gefährlich nahe an der Panikzone ist, ist für Wasserratten ein Kinderspiel. Wo die Komfortzone endet und die Challengezone beginnt, ist individuell so verschieden wie die Art der Herausforderung, die eine Person weiterzu­bringen vermag. «Eine Herausforderung hat dann die ideale Grösse, wenn die Chance, dass der Versuch gelingt, etwa gleich gross ist wie das Risiko, dass er scheitert», sagt Regula Immler, Leiterin Future Skills Ausbildung. Zwischen Über- und Unterforderung die richtige Dosis und Flughöhe zu finden, ist eine anspruchsvolle Kunst.

Ideenpool als Inspirationsquelle

Auf der Suche nach einer passenden Herausforderung dient den Jugendlichen der Futura und des Gymnasiums ein Ideenpool als Inspirations­quelle oder Sprungbrett, um eine eigene Lösung zu (er-)finden. Ein paar Beispiele: Bain de langue: mit dem 9-Uhr-Tagespass ins Welschland fahren, sich in Gespräche verwickeln und möglichst viele französische Sätze erproben. Digital Detox: Handy und Computer am Vorabend wegschliessen und einen komplett medienfreien Tag verbringen. Direttissima: auf der Landkarte zwei Punkte miteinander verbinden und möglichst auf direktem, umweglosem Weg erlaufen. Eintages-Roman: einen inspirierenden Schreibort ausserhalb der eigenen Wände aufsuchen und einen Tag lang an einem Roman schreiben. Tausch­handel: den Wert eines Apfels im Laufe des Tages aufs 20-fache steigern und damit ein Mittagessen ertauschen. Öffentliche Probe: an einem öffentlichen Ort (z.B. in einem städtischen Park) ein Musikstück oder einen Tanz aufführen und Passanten um ein Feedback bitten. Tabula Rasa: das eigene Zimmer ausräumen und mithilfe der Marie-Kondo-Methode eine neue Ordnung schaffen.

Vom Walen- an den Zürichsee

MOLLIS. Bei leichtem Schneefall startete Seraina (15) ihre Challenge mit der Fragestellung, wie weit sie ihre Füsse an einem Tag wohl tragen würden. «Die ersten 40 Minuten waren die schwierigsten», erzählt sie in ihrem erfrischenden Podcast. «Wie soll ich das jemals schaffen?», habe sie sich auf den ersten Kilometern gefragt. Doch je weiter die passionierte Crossfitterin und Seglerin der Linth entlanglief, desto grösser wurde der Stolz, die Motivation und auch der Ehrgeiz, noch weiter zu laufen. Nach 7 Stunden tauschte sie in Wurmsbach die Regen­jacke gegen eine Nudelsuppe, die sie im Spint gelagert hatte, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.

61’800 Schritte an einem Tag

PFÄFFIKON. Nach 11 Stunden und 61'800 Schritten dann die über­raschende Antwort auf die Ausgangsfrage: Die Mindestvorgabe von 20 Kilometern hatte sie bei weitem übertroffen, einen Marathon von 42 Kilometern hingelegt und sich völlig unerwar­teter­weise einen Sonnenbrand eingehandelt. Die grösste Angst, es könnte auf dem Weg langweilig werden, sei überhaupt nicht eingetroffen. Im Gegenteil: Sie habe so viel erlebt und beobachtet, - die ersten Schmetterlinge, Mauersegler und Mehl­schwalben, - dass sie ewig erzählen könnte.

Ohne Training 160 Rad-Kilometer

BERN. Auch David (14) wagte sich an eine körperliche und mentale Heraus­forderung. Bereits um 04:30 Uhr klingelte der Wecker, ein Teller Pasta sollte ihm die nötige Energie liefern, um die 160 Rad­kilometer von Bern nach Hinwil zu schaffen, und dies ohne grosses Training. «Meine Beine waren gut, ich kam flott voran», schreibt David in seiner Reflexion, «ab Baden kehrte die Topo­graphie aber von vorwiegend runter auf vorwiegend rauf.» Kurz vor Dübendorf wurde ihm übel, auf einmal hatte er Schluckweh und Rücken­schmerzen. «Ich bin stolz darauf, dass ich meinen Challenge mit einer Durch­schnitts-Geschwin­digkeit von 22km/h trotzdem vollum­fänglich geschafft habe.»

24 Stunden offline

RAPPERSWIL. Aline (17) nutzte den Challenge-Day, um 24 Stunden offline zu verbringen. Den Vormittag verbrachte sie in einem Rapperswiler Café. «Ich bin stolz darauf, dass ich es gewagt habe, alleine in ein Restaurant zu gehen, ohne Gesellschaft zu frühstücken und mich nicht hinter dem Handy verstecken zu können», schreibt Aline im kollektiven E-Book. Am Nachmittag vertiefte sie sich in einer Bibliothek in ein Buch über das Thema «Bewusstein». Ein nächstes Mal würde Aline noch mehr Hürden einbauen, um den Challenge-Charakter zu steigern.

Bain de langue

NEUENBURG. Mehrere Jugendliche nutzten die Gelegenheit, um mit dem Zug in die italienische oder französische Schweiz zu fahren und ins Sprachbad einzutauchen. Elias (16) verschlug es nach Neuchâtel. «Dort ange­kommen habe ich nach einigem Zögern wild­fremde Personen angesprochen, was sie an Neuchâtel schön finden. Nach den ersten 3-4 Gesprächen habe ich mich zu Fuss auf den Weg gemacht, um das empfohlene Landes­museum zu besuchen, welches leider dienstags geschlossen hat. Nach weiteren Versuchen hat die Kontakt­aufnahme immer besser funktioniert. Mühe hatte ich nur, in vollstän­digen Sätzen zu antworten. Wieder zuhause war ich froh, wieder Deutsch sprechen zu können.»

Create a Book in little time

MASELTRANGEN. Alan (16) startete den Tag in einem Café mit dem Vorsatz, den eigenen Ideen freien Lauf zu lassen und in 6 Stunden ein Buch zu schreiben. «In den ersten zwei Stunden hatte ich dreimal von neuem begonnen, dann war der Akku leer.» Nachdem der Akku wieder aufgeladen war, habe er auf einer Wiese weiterge­arbeitet. «Ich habe unterschätzt, wieviel Zeit und Geduld es braucht, um ein Buch zu schreiben. Obwohl ich gerade mal ein Kapitel zustande gebracht habe, bin ich inspiriert und motiviert, weiterzu­schreiben und noch mehr Zeit in dieses Projekt zu investieren.»

Hochtauschen

ZÜRICH. Timo (15) kaufte sich in Zürich einen Apfel, den er zu einem Mittag­essen hochtauschen wollte. Viele Leute hatten es eilig und keine Zeit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Am Ende des Experiments war Timo stolz darauf, sich getraut zu haben, 22 Leute anzusprechen. Und so wurde aus dem Apfel eine Banane und dann ein Bueno. Gegen Mittag schenkte ihm eine ältere Frau mangels Tauschobjekt eine Zehner­note, womit das Mittagessen auf einen Schlag geregelt war. Am Nachmittag wurde aus dem Bueno schrittweise ein Feuerzeug, ein Protein­riegel, zwei Redbull-Büchsen und schlus­sendlich eine 20er-Note, mit der Timo wieder nach Hause fuhr.

Acting outside the Box

WURMSBACH – Ein paar Tage später machen die Jugendlichen im E-Book einen Eintrag und markieren im 3-Zonen-Modell mit einem roten Punkt, wie weit hinaus sie sich mit ihrer selbst gewählten Challenge im Future-Skills-Bereich Resilienz und Acting outside the Box gewagt haben. Je näher sie an den oberen Rand der Challenge­zone kamen, desto mehr haben sie gewagt und desto stolzer können sie wohl auf ihre eigen­verlangte Leistung sein. So wie Seraina, die vom Challenge-Day schwärmt: Ein spannender Tag sei es gewesen, den sie so nie erwartet hätte und an dem sie sich selbst überrascht habe. Ein Erlebnis, das sie zufrieden und glücklich gemacht habe. «Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.» (Demokrit)

Challenge Day

 

Das 3-Zonen-Modell

Jeder Mensch bewegt sich im sogenannten 3-Zonen-Modell. Das Modell aus der Erlebnis­pädagogik geht davon aus, dass uns drei Zonen umgeben: die Komfortzone, die Challenge­zone und die Panikzone. Wo diese Zonen beginnen oder enden, ist individuell verschieden.

Die Komfortzone ist eine Art Wohlfühl-Oase. Hier fühlen wir uns rundum sicher, wohnen in unseren Gewohn­heiten, richten es uns in unseren Routinen gemütlich ein und schalten auf Autopilot. Mal entspannen, mal langweilen wir uns, ein spannendes Leben sieht anders aus.

Die Challenge-Zone, auch Wachstums-, Lern oder Risikozone genannt, ist das pure Gegenteil davon. Hier verlassen wir die gewöhnliche Welt, betreten unsicheres Terrain und überwinden (vermeintliche) Grenzen. In dieser Zone machen wir neue Erfahrungen, wachsen am Widerstand, stärken unsere Resilienz und erweitern damit unsere Komfortzone.

Die Panikzone, auch Stresszone genannt, überfordert uns. Überschreiten wir eine bestimmte Schwelle, erleben wir negativen Stress (Distress). Kontroll­verlust, Lähmung und körperliche Symptome sind die Folge davon. Oftmals scheitern wir, weil die Heraus­forderung (noch) eine Nummer zu gross ist.